"Keine Gefahr durch Sekten"
Enquete-Kommission in der BRD rät aber zur weiteren Beobachtung von Scientology
Von MARTINA FIETZBonn - Von Sekten und Psychogruppen geht gegenwärtig keine Gefahr für den demokratischen Staat aus. Zu diesem Schluß kommt die Bundestag-Enquetekommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" in ihrem Abschlußbericht. Eine Sonderrolle komme allerdings der Scientology-Organisation zu, sagte die Vorsitzende der Kommission, Ortrun Schätzle (CDU). Diese zähle auf keinen Fall zu den religiösen Gemeinschaften und sei eine "politisch-extremistische" Bestrebung. Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz sei darum gerechtfertigt.
Von einer Unterwanderung der Wirtschaft durch religiöse und ideologische Gemeinschaften könne nicht die Rede sein, sagte Frau Schätzle. Allerdings sei es Aufgabe des Staats, den einzelnen vor Übervorteilung und Schädigung zu schützen. Menschen, die sich Sekten oder Psychogruppen zuwenden, seien keine passiven Opfer, heißt es. Sie erlebten teilweise einen Zugewinn, könnten aber auch Schaden nehmen.
Die Enquetekommission plädiert darum für die Schaffung einer Bundesstiftung, die Informationen zu dem Thema Sekten und Psychogruppen sammeln und wissenschaftliche Forschung anregen soll. Außerdem befürwortet sie die Verabschiedung eines Gesetzes, das den Verbraucherschutz verbessert. Darin soll Tranzparenz über die Qualifikation der Anbieter auf dem Psychomarkt, der angewandten Methoden und finanzielle Verpflichtungen geschaffen werden.
Der Obmann der Unionsfraktion, Ronald Pofalla, betonte, die Kommission empfehle ausdrücklich keine Änderung des Grundgesetzartikels vier über die Glaubensfreiheit. Roland Kohn von der FDP betonte, es komme nicht darauf an, an der Verfassung herumzudoktern. Vielmehr müsse die Gesellschaft lernen, friedlich und tolerant mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt zu leben.
Die SPD dagegen will prüfen lassen, ob die Kriterien der Rechtstreue und Loyalität gegenüber dem demokratisch verfaßten Staat als Voraussetzung für die Anerkennung einer Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts gelten sollen. Dies legten die Sozialdemokraten in einem Sondervotum fest. Ein solches kam auch von den Grünen. Sie lehnen die Beobachtung von Scientology durch den Verfassungsschutz ab und plädieren dafür, in Fällen von Menschenrechtsverletzungen strafrechtliche Mittel einzusetzen.
Die Mitglieder der Kommission wiesen gestern im Bundestag den Vorwurf zurück, das Gremium habe "Gesinnungsschnüffelei oder Inquisition" betrieben. Eine Reihe von Juristen und Universitätsprofessoren werfen der Kommission unter anderem ungeprüfte Verdächtigungen und "Verächtlichmachung" von kleinen religiösen Gruppierungen vor. Lob erntete die Kommission dagegen bei der Deutschen Bischofskonferenz. Den Politikern und Experten sei der schwierige Weg gelungen zwischen dem im Grundgesetz festgelegten Gebot der Religionsfreiheit und der Schutzpflicht gegenüber den Bürgern. Die Kommission empfiehlt, wegen der stigmatisierenden Wirkung den Begriff "Sekte" in Zukunft nicht mehr zu verwenden.
© DIE WELT, 20.6.1998