Exkurs: Sektenbegriff
o.Univ.Prof.Dr.
Christian BRÜNNER
Graz, im März 2003
Auszug aus dem Gutachten zur Frage der rechtlichen und verwaltungspraktischen Determinanten staatlicher Information betreffend " Sekten"
Der Begriff "Sekte" hat seit mehreren Jahren wieder Hochkonjunktur. Hintergrund dieser Hochkonjunktur ist, dass Spiritualität und Religiosität nicht mehr nur oder primär in den "traditionellen", "herkömmlichen", "großen", "etablierten" "mainstream"- Religionen und -Konfessionen gelebt werden, wobei zu beachten ist, dass diese epitheta entsprechend dem Kulturkreis mehreren Religionen und Konfessionen zukommen. So gibt es Kulturkreise wie zB Asien, wo das Christentum eine (kleine) Minderheitsreligion ist oder in denen - mitunter als Sekten apostrophierte - religiöse Gemeinschaften von der Zahl ihrer Anhänger her "große" Religionen sind, wie zB der Buddhismus. Darüber hinaus werden Spiritualität und Religiosität heute auch und zunehmend in Gemeinschaften außerhalb des religiösen Mainstreams bzw Spektrums, nämlich in "Psychogruppen", der New Age Szene, esoterischen Bewegungen etc oder ohne festere Bindung zu einer religiösen Gemeinschaft gelebt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Manche Religionssoziologen vertreten die Hypothese, dass die Zeit der universellen Kirchen vorbei sei oder dass die Pluralisierung und Individualisierung von Religion bei gleichzeitiger Respiritualisierung (noch) weiter zunehmen werde.
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff "Sekte" negativ besetzt. Diesem negativen Bedeutungsgehalt leisten auch staatliche Informationen über Sekten, Vorschub, wenn in dieser "Sekten" durch folgende Merkmale definiert werden, die vor allem dann relevant seien, wenn mehrere von ihnen zusammen träfen: "die Geschlossenheit der Gemeinschaft, die klaren Grenzen zwischen Anhängern und Außenstehenden, die normierte Lebenspraxis im Inneren; die abseitigen und/oder kulturell fremden Ideen, die als nicht vermittelbare Glaubenswelten und Lebensorientierungen fanatisch vertreten werden; die Konflikte mit der Umwelt, vor allem persönliche Konflikte mit Angehörigen von Mitgliedern und fallweise juristische Konflikte mit Behörden; die Abhängigkeit der Mitglieder von einer charismatischen Führungsfigur bzw von einer Hierarchie, die Lehre und Praxis autoritär bestimmen".
Der Begriff "Sekte" war lange Zeit kein Begriff der österreichischen Rechtsordnung. Erst das Bundesgesetz über die Einrichtung einer Dokumentations- und Informationsstelle für Sektenfragen machte den Begriff wieder zu einem Rechtsbegriff.
Aus § 2 des Bundesgesetzes betreffend die Bundesstelle für Sektenfragen kann folgende Definition des Begriffes "Sekte" abgeleitet werden: Sekten (oder sektenähnliche Aktivitäten im Sinne des Bundesgesetzes) sind glaubens- und weltanschauungsbezogene Gemeinschaften (oder Aktivitäten), von denen Gefährdungen im Sinne des § 4 Abs 1 leg cit - diese Bestimmung zählt die oben dargestellten Schutzgüter auf - ausgehen können. Gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften und ihre Einrichtungen fallen gemäß § 1 Abs 2 leg cit nicht unter diesen Begriff. Gleiches gilt für staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaften, denen dieser Rechtsstatus nur zukommt, wenn von ihnen keine Gefährdungen im Sinne des Bekenntnisgemeinschaftengesetzes ausgehen und weil die Schutzgüter des Bekenntnisgemeinschaftengesetzes und die des Bundesgesetzes betreffend eine Bundesstelle für Sektenfragen als weitgehend identisch angesehen werden können.
Das Bundesgesetz betreffend eine Bundesstelle für Sektenfragen ist im Hinblick auf das Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit grundrechtsrelevant. Folgte man der Auffassung der EB zur RV, nämlich dass dem genannten Bundesgesetz präzise Tatbestandselemente betreffend das Phänomen "Sekte" nicht entnommen werden könnten, wäre das Bundesgesetz schon von daher verfassungsrechtlich problematisch, da ein Eingriff in das Grundrecht ua einer inhaltlich ausreichend determinierten gesetzlichen Grundlage bedarf.
Gemäß den EB zur RV geht der Gesetzesentwurf "bewusst" von einer nicht wertenden Verwendung des Begriffs Sekte aus. Erst bei Vorliegen bestimmter Gefahren und der Dokumentation und Information darüber komme dadurch zwangsläufig der damit verbundene negative Wert zum Ausdruck. In diesem Fall sei auch die Legitimation zur Bezeichnung einer Glaubens- oder Weltanschauungsgemeinschaft als Sekte gegeben.
Es gibt somit "Sekten", von denen Gefährdungen im Sinne des Gesetzes ausgehen, dann sind sie Sekten im Sinne des Bundesgesetzes. Und es gibt "Sekten", von denen keine Gefährdungen im Sinne des Bundesgesetzes ausgehen, dann sind sie keine Sekten im Sinne des Bundesgesetzes. Wie diese Haarspalterei dergestalt kommuniziert werden kann, dass nicht jede religiöse und weltanschauliche Gruppierung, die in der Öffentlichkeit mit dem Begriff "Sekte" bedacht wird, als gefährlich eingestuft und damit negativ bewertet wird, bleibt unerfindlich.
Die österreichische Verfassungsrechtsordnung ist geprägt vom Gebot der religiösen Neutralität des Staates. Religions- und Weltanschauungsfreiheit sind grundrechtlich geschützt. Aus beiden folgt die Rechtspflicht des Staates zu einer Begrifflichkeit, die sich der Wertung enthält oder die einer alltagssprachlichen Wertung keinen Vorschub leistet.
Das Bundesgesetz betreffend eine Bundesstelle für Sektenfragen kommt dieser Rechtspflicht nicht nach. Eine religiöse oder weltanschauliche Gruppierung, von der Gefährdungen im Sinne des § 4 Abs 1 leg cit ausgehen, ist eine Sekte im Sinne des Bundesgesetzes. In einem Rechtsschutzverfahren könnte sich allerdings herausstellen, dass die Aufnahme dieser Gruppierung in die Dokumentation und Information der Bundesstelle für Sektenfragen zu unrecht erfolgt ist. Diese Gruppierung wäre dann - zumindest temporär - mit einem negativ wertenden Begriff behaftet gewesen. Auch eine etwaige Streichung aus der Dokumentation und Information der Bundesstelle für Sektenfragen könnte das einmal erworbene Stigma "Sekte" nicht beseitigen, dies umso weniger, als keine Rechtsansprüche auf Widerruf und Veröffentlichung des Widerrufs bestehen. Darüber hinaus leistet - wie gesagt - die begriffliche Haarspalterei des genannten Bundesgesetzes Vorschub, den Begriff "Sekte" unabhängig von einer etwaigen Gefährdung negativ zu bewerten.
Wendete man den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch auf die Beantwortung der Frage der Begrifflichkeit an, böte sich vielmehr ein Begriff an, der die oben genannte Probleme vermeiden würde, nämlich eine religiöse oder weltanschauliche Gruppierung, von der bestimmte, gesetzlich definierte Gefährdungen ausgingen.
Was hinsichtlich der Begrifflichkeit über das Bundesgesetz betreffend eine Bundesstelle für Sektenfragen gesagt wurde, gilt auch für die mir vorliegende CD-Rom. Auch wenn der Informationsteil mit "Infos über religiöse Gruppen und Strömungen" überschrieben ist, wird in der CD-Rom immer wieder auch von Sekten gesprochen und damit die Assoziation verstärkt, dass die im Informationsteil genannten religiösen Gruppierungen Sekten seien.
Anmerken möchte ich, dass das Londoner Institut INFORM den Begriff "neue religiöse Bewegungen" verwendet. Eileen Barker schreibt in diesem Zusammenhang: "There is ... one point that ought to be made right from the outset: the use of the term 'new religious movement' does not imply that a movement is good or bad, that it is true or false, or genuine or fraudulent. Many scholars working in the field prefer the term 'new religious movement' to 'cult' because, although 'cult' (like 'sect') is sometimes used in a purely technical sense, it has acquired negative connotations in every parlance. While it is certainly recognized that a number of the NRMs have given rise to legitimate concern, it is neither necessary nor helpful to start from the implicit premise that the movements are always 'a bad thing' ".
Die Enquete-Kommisssion "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" des Deutschen Bundestages lehnt in ihrem Endbericht die Verwendung des Begriffs "Sekte" wegen seiner negativen Konnotation ab. Die Ablehnung des Begriffs "Sekte" werde auch durch das Ergebnis der Arbeit der Enquete-Kommission unterstützt, dass nur ein kleiner Teil der Gruppierungen, die bislang unter dem Begriff "Sekte" zusammengefasst worden seien, problematisch seien. "Daher wäre eine weitere Verwendung des Sektenbegriffs für alle neuen und religiösen ideologischen Gemeinschaften fahrlässig." Speziell für Aufklärungsschriften staatlicher Stellen hält es die Enquete-Kommission für wünschenswert, wenn im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung mit neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen auf die Verwendung des Begriffs "Sekte" verzichtet werden würde. Insbesondere in Verlautbarung staatlicher Stellen - sei es in Aufklärungsbroschüren, Urteilen oder Gesetzestexten - sollte die Bezeichnung vermieden werden.
In einer Verfassungsbeschwerde haben Meditationsvereine der sogenannten Shree Rajneesh-, Bhagwan- oder Osho-Bewegung ihre Apostrophierung als "Sekte", "Jugendreligion", "Jugendsekte", "Psychosekte" in Informationen der deutschen Bundesregierung bzw von deren Mitgliedern als im Zusammenhang mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit (Art 4 Abs 1 und 2 GG) disqualifizierende Begriffe gerügt. Das Bundesverfassungsgericht judizierte, dass die Verwendung der Bezeichnung "Sekte" in staatlichen Verlautbarungen im Lichte des Neutralitäts- und Zurückhaltungsgebots in religiös-weltanschaulichen Fragen verfassungsrechtlich keinen durchgreifenden Bedenken begegne. Dies werde auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass dieser Begriff in Bezug auf die neueren religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen zum Teil als negativ gefärbt verstanden werde. Dieses Verständnis ergebe sich notwendig aus der Weite und den inhaltlichen Differenzierungen des Sektenbegriffs selbst. Im übrigen sei der Staat durch die Pflicht zu religiös-weltanschaulicher Neutralität nicht gehindert, in der öffentlichen Diskussion über religiöse oder weltanschauliche Gruppen für diese die Bezeichnungen zu verwenden, die in der aktuellen Situation dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen und in diesem Sinn von den Adressaten der jeweiligen Äußerung auch verstanden werden würden. Der Staat dürfe Bezeichnungen und Begriffe verwenden, die in der aktuellen Situation den Gegenstand der Auseinandersetzung einprägsam und für die Adressaten seiner Äußerungen verständlich umschreiben würden, sofern die Äußerungen als solche nicht diffamierend oder sonst wie diskriminierend seien. Im gegebenen Zusammenhang vertrat das Gericht die Auffassung, dass die Begriffe " Sekte" "Jugendreligion", "Jugendsekte", "Psychosekte" die dem Staat vorgegebene Neutralität in religiös-weltanschaulichen Fragen wahren würden.
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